Neueste | Meistgesehene
Neueste | Meistgelesene




Napoleon Lapathiotis – Wegen Jolandas Augen

  3.476 Wörter 12 Minuten 560 × gelesen
2023-06-16 2023-06-16 16.06.2023
Napoleon Lapathiotis 0001
Napoleon Lapathiotis

Den Dichter und Schriftsteller Napoleon Lapathiotis (1888-1944) kennt hier in Deutschland kaum jemand. Der Krimi-Autor Petros Markaris stellt ihn uns vor:
„Napoleon Lapathiotis war homosexuell und eine sehr prominente Figur der literarischen Salons. Er hatte in seinem Leben nie arbeiten, kein Geld verdienen müssen, weil er vom Einkommen seines Vaters leben konnte. Als sein Vater 1942 starb, war der Sohn völlig mittellos. 1944 beging er Selbstmord“.
Die folgende Erzählung mit dem Originaltitel Για τα μάτια της Γιολάντας erschien in der Zeitschrift Μπουκέτο, Τόμ. 6, Αρ. 267 (16. Μαίου 1929), S. 505-507 und wurde von Markus List ins Deutsche übersetzt.

An jenem Abend war der Zirkus zum Ersticken voll. Es gab keinen freien Platz mehr. Das große Amphitheater, ganz schwarz durch die vielen Leute, war ringsum mit venezianischen Laternchen und Lampions geschmückt, so wie Märchenschlösser. Viele, die sich verspätet hatten und keinen Platz auf den Balkonen gefunden hatten, waren irgendwie auf den Treppen und den dazwischen liegenden Gängen zusammengedrängt und hatten nicht vor, sich von dort wegzubegeben. Selbst mit Gewalt konnten die Kellner kaum durchkommen, die unaufhörlich auf Tabletts Süßigkeiten und Eis brachten.
Unzählige Münder redeten und lachten laut. Dieses ganze Menschenmeer unterhielt sich lebhaft und schwatzte – und ein großer unverständlicher Lärm stieg von allen Seiten fröhlich in den Himmel.
Alles hatte heute Abend etwas Außergewöhnliches, etwas Fieberhaftes und Ungewohntes, etwas feierlich Fröhliches. Nur der Himmel hielt seine Sterne verborgen, obwohl es überhaupt keine Wolken hatte, vielleicht wegen des Widerscheins der elektrischen Lampen. Dies war das einzig Dunkle inmitten des auffälligen Lichtermeeres ...
Schon ganz früh, fast schon bevor es Tag wurde, hatten riesige rote und grüne Wandplakate das „verehrte Publikum“ informiert, dass an diesem Abend Tom und Bob, die Lieblingsburschen der Zirkuskompanie, ihre Wohltätigkeitsvorführung gaben, die letzte in diesem Jahr, und luden es ein, sie mit einem Besuch zu beehren.
Der Herbst war schon ziemlich fortgeschritten, doch das schöne Wetter hielt noch an. Die erste Abkühlung war noch nicht gekommen.
Noch kurz bevor die Sonne unterging, um halb sechs genau, zur Stunde mit viel Verkehr, hatte die gesamte Zirkustruppe eine Kundgebung auf den zentralen Straßen gemacht mit Trompeten, Trommeln und Ankündigungen sowie mit ihren dreißig Pferden, um noch mehr Werbung für dieses außergewöhnliche Ereignis zu machen …
„GELÄCHTER – GELÄCHTER – GELÄCHTER“ – so stand es im Programm, mit Großbuchstaben, besonders großen Buchstaben …
Und den ganzen Tag über, vom Morgen an, hielt eine fieberhafte Vorbereitung den ganzen Zirkus in Aufregung: Seiltänzer, Arbeiter, Stallknechte kamen und gingen, mit Seilen, Bändern, Blumen und Goldpapier, mit Girlanden und bunten kleinen Fahnen, sie tauchten von überall her auf und nagelten und flickten und schmückten und bedeckten Kisten und Bretter mit roten Tüchern und Girlanden. In jede Papprose, die sie aufhängten, steckten sie ein elektrisches Glühbirnchen. So sollte der Abend ein wahrhaftiges Traumbild werden – ein traumhaftes Erblühen von Lichtern, ein Feuerwerk von roten Rosen!
Eine Reihe von beladenen Karren war vor dem Zirkuseingang geparkt. An diesem Abend musste der Sand frisch und feucht sein. Sie warfen ihn hin und befeuchteten ihn – sie traten ihn mit den Füßen, damit er glatt und fest wurde, und danach gingen sie mit den Schaufeln darüber.
Der Zirkusdirektor – ein Italiener von Kopf bis Fuß – von mittlerem Alter, wohlbeleibt und aufgedunsen, mit seinem gewachsten Schnurrbart und seinem schönen schwarzen Backenbart, bügelte jetzt, nachdem er eine allgemeine Überprüfung gemacht und gesehen hatte, dass alles richtig lief, in sein Garderobenzimmer zurückgezogen selbst seinen Frack und reinigte mit Benzin seine weißen Handschuhe.
Das alles für Tom und für Bob …
Tom und Bob waren die jüngsten Akrobaten der Zirkustruppe – der eine sechzehn Jahre und der andere achtzehn Jahre alt.
Tom hatte braune Haare und zwei große blaue Augen, die seltsam unter seinen zwei sehr feinen Augenbrauen leuchteten, er war gewandt und lebhaft, etwas dünn, obwohl er kräftig und stark war, er hatte einen geschmeidigen und schönen Körperbau, der an eine dünne traurige Zypresse erinnerte. Er war das Schoßkind des Zirkus. Besonders die Damen waren ganz verrückt wegen seiner blauen und seltsamen Augen. Sie schickten ihm dauernd ausgesuchte Blumensträuße und andere Geschenke oder Kekse und Süßigkeiten.
Er lächelte immer, mit seinem traurigen Lächeln, weil er seine Lippen an den Mundwinkeln etwas bitter zusammenkniff.
Bob, der ältere, hatte keine Ähnlichkeit mit Tom. Er war blass und sein Körper war dünner. Wenn er halbnackt im kurzen Anzug und seinem Silberflitter hinausging, dachte man, er wäre ganz aus Gummi, so elegant bogen sich seine Körperformen. Seine Augen hatten eine Farbe wie Honig, goldener Honig, den man im Sonnenlicht betrachtet – eine tiefe und geheimnisvolle Farbnuance.
Auch ihn liebten die Damen für sein bescheidenes und ernstes Auftreten.
Doch alle beide wurden von allen geliebt.
Von klein an spielten sie zusammen, in einer Baracke in irgendeinem Dorf und waren in tiefster Freundschaft miteinander verbunden. Außerdem erforderte das auch ihr Beruf.
Ihre zwei Leben waren ein Leben geworden.
Niemand wusste, aus welcher Familie sie stammten. Eine Frau hatte Bob als Baby gefunden, abgelegt auf dem Mäuerchen ihres Innenhofs. Wer ihn dort abgelegt hatte, wurde nie bekannt. Zum Glück war sie eine sehr mitleidige Frau, die vollkommen allein lebte und ihn wie ihr eigenes Kind liebte. Dann aber starb sie und hinterließ den dreijährigen Jungen in den Händen einer jüdischen Schauspielerin, die sich während ihrer Krankheit um sie gekümmert hatte. Diese zog ihn groß, lehrte ihn ihr Kunstwerk, trainierte seinen geschmeidigen Körper, mit Purzelbäumen und anderen derartigen Kunststücken, bis sie ihn dann auch eines Tages auf die Bühne brachte.
Doch Bob war unglücklich. Allein unter den angemalten Gesichtern, den groben und nichtsnutzigen Gestalten, die die fahrende Truppe ausmachten, führte er ein unschönes und freudloses Leben. Der arme Kerl aß nicht ordentlich; etwas Brot, etwas Käse – und höchstens noch ein paar Trauben – das war oft sein einziges Abendessen, hinterher, wenn die Vorstellung zu Ende war. Auf diese Art und Weise vegetierte er einige Zeit vor sich hin.
Doch das war nicht der Grund seiner Verbitterung. Wenn Bob unglücklich war, dann war er aus einem anderen Grund unglücklich …
Nachts machte er sich davon und trieb sich auf gut Glück in den Gassen herum. Er richtete seine Augen nach oben, hinauf zum bleichen und seltsamen Mond – und es schien ihm, als stiege der Mond tief in seine Seele hinab und erzählte ihm merkwürdige Sachen, zarte und traumhafte Sachen. Dann wiederum legte er sich am Boden nieder und roch die feuchte Erde – besonders wenn es Herbst wurde – und fühlte in sich eine solche Sehnsucht, dass er am liebsten sterben wollte … Stunde für Stunde saß er wiederum abseits, in einer Ecke und öffnete seine großen Augen und hörte die schmutzigen und idiotischen Geschichten, die ein Clown, ständig betrunken, aber weit herumgekommen, jeden Abend in seiner Gesellschaft erzählte. Die unanständigen Worte des Clowns bekamen einen neuen Sinn für ihn, irgendwelche geheimnisvolle Bedeutungen, als wären sie irgendwelche schnelle, leuchtende und seltsame Lichtfenster, die sich fast blitzartig öffneten und jähes und neues Licht auf das Leben warfen …
Das war seine ganze Unterhaltung. Danach blieb er wieder tagelang nachdenklich und schweigsam.
So verging einige Zeit.
Eines Abends, als die Vorführung fast zu Ende war und er heimlich durch die alten Bretter die nichtsnutzigen Leute auf dem Platz sah, die schallend lachten und ausspuckten und kicherten, erblickte er zwei traurige und verzückte Augen, die die Lichter voller Verwunderung betrachteten … Es war ein kleiner Junge mit einem blauen, traurigen Blick – ein blauer, trauriger Blick wie der Himmel zur Stunde, wo es Abend wird! Danach, als er an der Reihe war aufzutreten, schauten die zwei Augen auf Bob, der seinen Leib auf einem alten Tisch hin- und herbog, als hätte er überhaupt keine Knochen …
Irgendwann lächelte Bob ihm zu. Auch jener lächelte ihm zu. Danach lächelten sie wiederum zusammen … Das war alles – und es war genug.
Der Kleine war ebenfalls allein. Eine alte Frau, die ihn in ihrem Haus aufgenommen hatte, war ins Ausland gereist und niemand hatte je erfahren, was aus ihr geworden war. Als ob dasselbe traurige Schicksal sie beide geprägt hätte, damit sie sich fänden und sich liebten …
Sie erzählten sich viel, zusammengekauert in einer Ecke, angelehnt an ein schmutziges Fass, und vergaßen die Zeit bis zur Stunde, wo es anfing, hell zu werden. Als sie auseinandergingen, war es Tag geworden …
So hatte Bob eines Abends Tom kennengelernt.

Die Zeit verging. Und das Leben schritt in dieser Zwischenzeit ohne zu warten voran.
Beide waren inzwischen groß geworden und attraktiv, wie antike Jünglinge.
Genau seit dieser Zeit führten sie waghalsige Kunststücke auf, bis ein Zirkusunternehmer aus der Hauptstadt, der ziemlich berühmt und reich war, die beiden in seine Zirkustruppe holte. So traten sie vor vielen Menschen auf, mit großen Hoffnungen für die Zukunft.
Nach wenigen Jahren waren sie berühmt geworden – sie waren vielgefragte Akrobaten. Die Damen waren vor allem hingerissen von Tom – die Männer dagegen zogen, wie schon gesagt, Bob vor. Und alle liebten das Brüderpaar, denn viele hielten sie für Brüder, bis sie selbst schon anfingen, das zu glauben, und sie lächelten, wenn sie das hörten und empfanden eine tiefe Befriedigung, so groß war ihre Zuneigung ...
Daher war an dem Abend, als sie ihren Wohltätigkeitsauftritt haben würden, buchstäblich die Hölle los. Die anderen Seiltänzer, in ihrer Garderobe versammelt, stritten sich darum, wer sie zuerst zurechtmachen und wer sie richtig herausputzen durfte. Sie hatten, wie man sieht, keinen Feind unter den Zirkusangehörigen – ausgenommen vielleicht Pepo, den Clown, der wahrscheinlich auf sie eifersüchtig war, auch wenn er das nie offen gezeigt hatte.
Sie trugen den rosafarbenen Anzug mit dem silbernen Flitter und kämmten sich vor dem großen Doppelspiegel, beide fast gleichaussehend, wie immer; und am Ende bemalten sie ihre Lippen karminrot – wie zwei winzige rote Herzen …
Anschließend warteten sie auf die Stunde, wo ihr Auftritt fällig war. An jenem Abend hatte man es absichtlich so gelegt, dass sie ihre Nummer zuletzt aufführten.
Die Musik hatte begonnen, das Publikum klatschte Beifall – doch jene beiden standen nun im Flur, unter einer roten Fahne, schweigsam und melancholisch, und ihre Herzen waren betrübt …

Da ging Bob plötzlich auf Tom zu und sagte zu ihm: „Tom, ich möchte einen Moment lang mit dir sprechen. Ich bitte dich aber inständig um eines: Wenigstens heute Abend sollst du dich nicht vor mir verstecken … Wir beide haben uns genug versteckt, so lange Zeit. Ich weiß genau, was in deinem Herzen vorgeht, und du weißt, was sich in meinem abspielt. Du weißt aber nicht, was ich dir sagen werde … Tom, Tom, ich möchte, dass du mir heute Abend zuhörst und dass du dich an das erinnerst, was ich dir sagen werde, dass du es dir in deiner Seele einprägst für die Zeit, wo ich nicht mehr da bin … Tom, Tom, sieh mir in die Augen … Sage es mir klar und deutlich: Du liebst sie!...“
„Bob!“
„Komm, sei ruhig jetzt, sei ruhig, sage ich dir … Sage mir: «Ja, ich liebe sie!», das reicht mir! Du liebst sie, du liebst sie, ich weiß es … Was auch immer du mir sagst, ich weiß es! Ich weiß es schon lange – und habe trotzdem nie mit dir darüber gesprochen. Was schaust du mich so an, wie ein Trottel? Heute ist die Zeit gekommen, dass ich es dir sage: Du liebst sie, und sie liebt dich ...“
„Bob, was sagst du da! ...“
„Du liebst sie und sie liebt dich, ja! Das weiß ich, Tom, ganz genau! Höre also zu – wir sind gleich dran, gleich läutet die Glocke: du liebst sie und sie liebt dich, Tom! Doch niemals habe ich mit dir darüber geredet … Jetzt aber muss ich es dir sagen. Heute Abend muss ich es dir unbedingt sagen. Tom, verzeih mir, verzeih mir: ich bin eifersüchtig ...“
„Bob!“
„Ja, ich bin eifersüchtig, ja, ich bin eifersüchtig, Tom … Und ich kann nicht weiterleben so, Tom … In den ersten Tagen, wo ich das mit euch bemerkt habe, hatte ich vor, furchtbare Sachen zu machen! Verzeih mir, Tom, ich war verrückt! … Danach habe ich dann beschlossen, ich versuche zu vergessen, Tom. Doch auch das war vergebliche Mühe … Es gab keine Art und Weise zu vergessen … Mein Leben ist zur Qual geworden … Höre, jetzt wird die Glocke läuten: So konnte das nicht weitergehen. Es musste mal ein Ende haben … Und heute Abend, habe ich beschlossen, geht es zu Ende, Tom … Ich erzähle dir das nur, dass du dich an mich erinnerst, dass du dich an Bob erinnerst, deinen Bruder, in der Zeit, in der dieser nicht mehr da sein wird … Denn du warst meine Freude, du, Tom, meine einzige Freude auf dieser Welt, meine erste und letzte Freude ...“
In Bobs Augen standen dicke Tränen.
„Heute Abend wird das alles aufhören … Mache das nicht, schreie nicht, Tom! Es ist eine Schande, alle werden es kapieren … Ich möchte nur, dass du es weißt … Heute Abend wird das alles aufhören! Es wird so schön sein, so schön! Ein Ende wie ich es mir immer erträumt habe … unter den Scheinwerfern, mitten in den Blumen … Und nur du allein wirst es wissen, Tom! Nur du, sonst niemand, Tom! Aber sei ruhig, sei ruhig, Mensch – was machst du denn? ... Möchtest du uns vor aller Welt blamieren? Komm, mein Gott, hast du das wirklich geglaubt? … Passieren solche Sachen jemals? … Komm, sei ruhig, sei kein kleines Kind! Kann ich dir nicht einmal einen Scherz erzählen? … Kann denn sowas passieren? Das habe ich so zu dir gesagt, um dich zu prüfen … Höre mal, die Glocke läutet … Tom, mein lieber Tom, mein süßer Tom! ...“
Die beiden Jungen umarmten sich und küssten sich heftig auf den Mund.
Beide weinten jetzt still. Sie wussten beide, dass es die Wahrheit ist!
Draußen klopften die Leute mit ihren Stöcken, die Musik spielte laut, und die Clowns schlugen Purzelbäume und lärmten herum und die Damen lachten sich tot …

Schließlich ertönte die Glocke und ein ausgedehntes Psssst … verbreitete sich von allen Seiten.
Zwei Reihen Männer und Frauen, die als Amazonen angezogen waren, mit Samtschleifen und mit Stiefeln, kamen und stellten sich rechts und links vor dem roten Vorhang am Eingang auf.
Die Leute hörten jetzt auf zu lachen und eine plötzliche Stille trat ein.
Nur eine Frau mittleren Alters auf den vorderen Sitzen sagte laut etwas zu ihrer Nebensitzerin. Diese Frau konnte nicht einmal in den offiziellsten Momenten schweigen …
Dann wurde der Vorhang hochgezogen und von Marschmusik begleitet erschienen plötzlich die beiden Jungen. Sie schlugen zwei Saltos in der Luft und begrüßten danach das Publikum.
Ein Beifallssturm und begeisterte Bravorufe begrüßten sie. Von überall her, von den Tribünen, flogen Unmengen von Blumensträußen herunter …
Die beiden Jungen waren sehr blass.
Bob trug seinen rosafarbenen Anzug, sehr eng an seinen Körper gepresst, und ging etwas nervös herum. Er warf seinen aufrechten Kopf nach hinten und betrachtete stolz das Publikum. Ein unglaubliches und unsichtbares Triumphgefühl umgab jetzt seinen ganzen Körper. Er war heute Abend außergewöhnlich schön … Er glich einem römischen Gladiator – und eine wahnsinnige Stimme aus seinem Inneren zu der Menge ringsherum erfüllte die Abendluft, ohne dass sie zu hören war – fast wie eine Vergötterung: «MORITURI TE SALUTANT – TE SALUTANT! ...»
Tom stand neben ihm, klein und in sich gekehrt.
Sie fassten sich an der Hand und grüßten noch einmal das Publikum ringsum, das ihnen zujubelte.
Sofort danach begannen sie mit ihren Kunststücken.
Ein langer Draht wurde in der Mitte gespannt, zwischen zwei langen Leitern. Bob kletterte zügig hinauf, er hatte zwei strahlendweiße Rosensträuße dabei, einen in jeder Hand.
Danach befühlte er den Draht mit dem Fuß, überaus zögernd, als ob es darum ginge, sich ins Meer zu stürzen, und ließ ganz langsam los, sanft gleitend wie ein Schlittschuhläufer.
Tom machte gegenüber dasselbe. Er hielt in seinen Händen zwei rote Rosensträuße.
Beide machten genau dieselben Bewegungen und kamen gleichmäßig und rhythmisch mit den Füßen auf dem Draht balancierend schnell in der Mitte an und standen sich gegenüber.
Sie mussten nun die Blumensträuße ohne Zeit zu verlieren austauschen und wieder zurückgehen zu ihrer Ausgangsposition: Tom musste Bobs weiße Rosen nehmen und dieser wiederum die roten Rosen.
So geschah es auch. Sie tauschten die Blumensträuße aus und kehrten an ihren Platz zurück.
Ein Beifallssturm erschütterte da das Amphitheater von einem Ende zum anderen: «Bravo! Bravo! Bravo! ...»
Anschließend zeigten sie verschiedene andere Darbietungen.
Besonders Bob war in bester Stimmung. Sein ganzes Gesicht leuchtete, seine Augen schienen Funken zu sprühen …
Sie schlugen Purzelbäume auf länglichen Teppichen mit verschlungenen Händen und Beinen – und stiegen danach, wie ein Knäuel ineinander verschlungen, blitzschnell eine Treppe hinunter.
Die Musik spielte jetzt ein leises trauriges Stück, das in Bobs Seele bedrohlich widerhallte.
Danach gingen sie hinter den Vorhang.
Jetzt kam die letzte Artistenübung an die Reihe.
Ein kleines Kind, violett angezogen wie ein Jockey, erschien mit einem großen Schild in der Hand, auf dem in auffällig großen schwarzen Buchstaben stand:
SALTO MORTALE
Und auf der Rückseite:
WÄHREND DER DAUER DIESER ÜBUNG
WIRD DAS VEREHRTE PUBLIKUM
GEBETEN NICHT ZU SPRECHEN

Nachdem es das Schild in alle Richtungen gedreht hatte, ging es wieder hinaus.
Der rote Vorhang wurde hochgezogen, die Lichter halb verdunkelt.
So verging einige Zeit in stiller großer Erwartung.
Der «Todessprung» war die größte Attraktion der Saison für das große, das unersättliche Publikum, das den intensiven Aufregungen nachjagte. Viele Damen wurden regelmäßig bewusstlos – doch das hinderte sie keineswegs daran, jeden Tag wiederzukommen, um ihn zu sehen.
Auch die Zeitungen hatten viel geschrieben, dass die Polizei endlich dagegen einschreiten müsse! Sie schrieben aber auch viel über den Mut der Jungen, die jeden Augenblick mit soviel Kaltblütigkeit dem Tod ins Auge sahen – und stachelten dadurch die krankhafte Neugier der Öffentlichkeit noch mehr an …
Die Musik begann nun den «DANSE MACABRE» von SAINT-SAENS zu spielen.
Der Zirkus war jetzt ganz dunkel und still.
Die beiden Jungen erschienen ganz in schwarz gekleidet. Die eine Schulter war schräg zugeschnitten und ihre Blässe leuchtete wie Schnee in der Dunkelheit. Niemand klatschte jetzt Beifall.
Ein Schauder verbreitete sich im ganzen Amphitheater und die Augen aller blieben unbeweglich und konzentriert.
Langsam und lautlos traten die beiden vor, wie Schatten.
Bob glich jetzt einer Statue. Er hatte die Augen offen, weit offen. Eine Steifheit wie aus Marmor umfing seinen Körper.
Die Musik spielte immer noch den «Todestanz». Und ein Hauch von Friedhof hatte sich jetzt im ganzen Zirkus ausgebreitet, ein schrecklicher Hauch von Friedhof …
Bob kletterte langsam das Seil hinauf, bis zum hohen Trapez, und hielt sich an der Eisenstange fest.
Tom machte gegenüber genau dasselbe.
Sofort fingen sie an zu schwingen, anfangs sehr langsam. Dann aber verstärkte sich das Schwingen. Als es genügend Fahrt aufgenommen hatte, verließ Tom, mit den Beinen Schwung holend, die Trapezstange, sprang los und hielt sich an Bobs Knien fest.
So bildeten sie eine Kette, der eine am anderen hängend, wie ein langer und schwarzer Stalaktit …
In diesem Augenblick empfand Bobs Herz Traurigkeit und gleichzeitig Glück.
Er dachte an die Zeit, als er ein kleines Kind war und den Erzählungen des Clowns zugehört hatte. Danach erinnerte er sich an zwei blaue Äuglein – zwei blaue traurige Äuglein, die hingerissen die Bühnenlichter betrachteten …
Danach sah er plötzlich die Augen Jolandas vor sich – die großen Augen Jolandas … Schnell und unverzüglich machte er seine eigenen Augen zu.
Während Tom sich so an seinen Beinen festhielt, kam es Bob vor, als weinte er. Dieses scheinbare Weinen erfüllte ihn mit Sehnsucht und Glück …
Anschließend kehrte Tom plötzlich wieder zu seinem Trapez zurück. Sie bereiteten sich nun für den großen letzten Sprung vor.
Auf den Balkonen, im ganzen Amphitheater, hielten alle den Atem an.
Die Musik hörte schlagartig auf.
Die beiden Jungen befanden sich jetzt gegenüber, jeder auf seinem Trapez, und hatten ihre Augen unbeweglich geradeaus gerichtet.
Eins!
Nun musste jeder nach einem Salto in der Luft das Trapez des anderen ergreifen.
Zwei!
Bob presste die Zähne zusammen und wartete. Er schaute Tom direkt in die Augen. Seine Augen waren vollkommen unbeweglich.
Drei! …
Er schloss die Augen und sprang mit ausgestreckten Armen los.
Zuerst vollführte er den großen Salto und beging danach, anstatt beim anderen Trapez anzukommen und sich dort festzuhalten, einen Fehler und kam etwas zu tief und wurde wie ein Pfeil ins Leere geschleudert …
Das Publikum fing an zu schreien.
Bobs schlanker Körper schlug mit Wucht auf den Holzbrettern auf und fiel danach, ganz klein, zusammengestaucht, wie ein kleiner toter Vogel, etwas nach rechts gebogen mit seinem ganzen Gewicht zu Boden ...
So starb der bedauernswerte Bob.
Tom, am anderen Trapez, rührte sich nicht von seinem Platz, er hatte die Fingernägel in die Eisenstange gebohrt und seine Augenlider geschlossen. Mittendrin im wehklagenden Geschrei, der Panik und dem Herumrennen der Leute war er wie versteinert geblieben und hatte vor seinen Augen die Augen Jolandas, die großen Augen Jolandas ...